Mitte März flog ich zum ersten Mal seit neun Jahren in die USA und zum ersten Mal überhaupt verbrachte ich Zeit an der Ostküste. Einerseits war ich natürlich schon oft hier – durch Filme, Friends, Seinfeld und 90er-Jahre-Rap – andererseits überkam mich schon etwas, das man vielleicht Paris-Syndrom nennen könnte, als ich aus der Penn Station kam und mir die volle Ladung Manhattan ins Gesicht geknallt wurde.
Die ersten Tage verbrachte ich in Williamsburg, Brooklyn. Von hier aus ging ich, ganz wie ich es meist auf meinen Reisen handhabe, zu Fuß. Durch verschiedene Viertel entlang der Bedford Avenue – von den Hipstern, die das nördliche Williamsburg durch die gute Anbindung nach Manhattan per L-Train schätzen und nostalgisch den Zeiten hinterher blicken, als Mieten hier in Willy noch für Künstler und Kreative bezahlbar waren; über die hasidischen Juden, die sich im südlicheren Williamsburg kurz vor dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt haben; bis hin zum industrielleren Teil Brooklyns mit dem Hafen.
Downtown Manhatten – im Gegensatz zu Brooklyn – war, und ich übertreibe hier nicht, in meinen Augen hell on earth: Riesige Wolkenkratzer, die den Menschen am Boden jegliche Sicht auf die Sonne nehmen und die dem Individuum durch ihre monströse Omnipräsenz die eigene Bedeutungslosigkeit aufzeigen (sollen?). Gleichzeitig hat es etwas Hierarchisches: wir hier oben, ihr da unten. Ich fühlte mich an Gods’ Man erinnert, ein herausragender Holzschnitt (und Vorläufer der Graphic Novels) einer Faustischen Geschichte eines Künstlers in der großen Stadt.
Von New York City aus fuhr ich per Bus in Richtung Neuengland, dem zuerst durch britische Siedler besiedelten Gebiets der USA. Im Bundesstaat Rhode Island traf ich Gabriel, der hier in Providence die Hälfte des Jahres verbringt. Ich lernte innerhalb weniger Tage, weshalb aus den Hydranten ein langer Stab hinausragt (damit man ihn bei hohem Schnee freischaufeln kann), wie Rhode Island gegründet wurde (Roger Williams, dem Gründer des Staates, war die Trennung von Staat und Kirche in anderen Kolonien nicht deutlich genug) oder weshalb Wasser beheizen (radiator) eigentlich so viel besser ist als warme Luft in Häuser pressen (forced-air). Providence bleibt mir als kleine, hübsche Stadt mit enormen Potential und vielfältigem kulturellem Angebot (viele Restaurants, Bars, coffee shops, Brauereien) in Erinnerung.
Von Providence aus fuhr ich weiter nach Boston, Massachusetts, einer stark durch Hochschulen geprägten Stadt. Schöne brownstones, allerdings abgehobener als anderswo, so mein Gefühl. Mit Boston wurde ich nicht warm. Noch ein Stückchen weiter nördlich, in Portland, Maine, fühle ich mich wohler. Die Stadt ist nicht groß, weist aber die meisten Mikrobrauereien gerechnet per Einwohner auf. Vom Busbahnhof aus laufe ich zu Fuß zu meiner Unterkunft, entlang Straßen ohne Bürgersteige und durch eine skid-row-Nachbarschaft mit vielen Herumlungernden und Betrunkenen. Ich gehe kommentarlos an ihnen vorbei – plötzlich versuchen zwei von ihnen, den Griff meines Koffers zu umklammern, torkeln dabei aber zu sehr, um erfolgreich zu sein. Ich gehe schnellen Schrittes weiter.
Nach fast zwei Wochen in den Vereinigten Staaten ging es von hier aus zurück nach NYC, dieses Mal nach Ridgewood, Queens. Queens ist groß und bietet von suburban Nachbarschaften bis zu dichtbesiedelten Großstadtgebieten alles. Man sagt: Queens is the most ethnically diverse urban area in the world. Dieses feeling, durch die Straßen Queens zu laufen, ein Gefühl, das für mich so sinnbildlich den melting pot zusammen fasst – das ist für mich das New-York-Gefühl. Nicht die Wolkenkratzer, nicht die Freiheitsstatue, vielleicht nicht einmal die Brooklyn Bridge, sondern: Die Arbeiter, die am Morgen ihre Läden mit neuer Ware bestücken; die ältere Frau, die mit vollen Tüten in der Hand aus dem lokalen grocery store kommt; die neonbeschriftenen dive bars, in denen sich am Abend jung und alt trifft; die Bauarbeiter in ihren gelben Warnwesten; der schwarze cop, der mit dem hispanic Jungen scherzt. Das und nicht die Anzugträger der Fifth Avenue.