Snapchat wird von über 100 Millionen Menschen täglich genutzt. Im Gegensatz zu anderen Social Networks, sogar im Gegensatz zu einem gelernten Prinzip des Internets, sind veröffentlichte Inhalte nach wenigen Sekunden, höchstens aber nach 24 Stunden, wieder von der Bildfläche verschwunden. Es ist gerade auch diese Flüchtigkeit, die den Reiz aus macht. In diesem Beitrag versuche ich zu ergründen, welche vorhandenen Verhaltensmuster und Bedürfnisse Snapchat ermöglichen — und welche durch Snapchat ermöglicht werden.
Zunächst müssen wir dazu einen Blick auf die Art der Inhalte werfen, die auf Snapchat geteilt werden. Wie angesprochen lädt der kurzlebige Charakter dazu ein, Inhalte zu veröffentlichen, die nicht unbedingt auf ewig archiviert wären (und, wenn nicht in einem geschlossenen Ökosystem veröffentlicht, durch Suchmaschinen auffindbar). Wenn Inhalte auch noch nach Jahren nachverfolgt werden können, wird in höherem Grad darüber nachgedacht, was genau geteilt wird. Doch bei Snapchat sorgt die temporäre Natur der hochgeladenen Inhalte dafür, dass das sonst dem Internet inhärente Nicht-Vergessen in den Hintergrund rückt. Was nur höchstens 24 Stunden zu sehen ist und nicht gespeichert werden kann (zumindest für die einzelnen Nutzer nicht ohne Hürden), hat auch keine Konsequenzen, anders als etwa Fotos auf Instagram. Die Hemmschwelle sinkt.
Eben diese Mechanik, das Verschwinden von Beiträgen, die temporäre Art, bringt das übergreifendste Thema der Veröffentlichungen hervor: Trivialität. Auf Snapchat darf ich nicht nur meine (natürlich ebenfalls inszenierte) »hässliche« Seite zeigen, sondern kann unkommentiert ein Foto einer Bettdecke, einen Strand, ein Foto von mir teilen. Durch Snapchat ist es Nutzern möglich, sich bewusst von der sonst herrschenden Überinszenierung, jedenfalls oberflächlich, abzugrenzen. Oberflächlich, denn Snapchat ist viel mehr als andere Netzwerke eine Aneinanderreihung von Statussymbolen. Nicht unbedingt materielle, sondern vielmehr Erfahrungen: die gerade erlebten, möglichst beiläufig geteilten, Augenblicke. Ein Museumsbesuch, ein Tag am Strand, ein bestimmter Club, eine bestimmte Band, ein bestimmtes Restaurant. Wobei das Teilen und dadurch wieder erlebbar machen einen Teil der Gesamterfahrung darstellt.
Snapchat wird genutzt, um den eigenen Tag als eine Anreihung von guten Momenten zu inszenieren. Noch mehr als Fotografie an sich erlaubt Snapchat ein Verhalten, das Susan Sontag in ihrem Essayband ›On Photography‹ beschreibt: »Photographs will offer indisputable evidence that the trip was made, that the program was carried out, that fun was had.«
Geschickt besetzt Snapchat eine Lücke, die Instagram in der Anfangszeit nutzte: den Wunsch, Momente sofort zu teilen. Während, auch durch eine ästhetische Professionalisierung, mittlerweile zwischen Aufnahme des Bildes und Veröffentlichung auf Instagram einige Zeit liegt, was die Unmittelbarkeit aufweicht, bedient Snapchat weiterhin diesen Wunsch. Hier kann ich als Nutzer noch einfacher am Leben Anderer partizipieren und mitbekommen, was meine Freunde oder Prominente gerade erleben. Was geteilt wird, passiert jetzt. Und wenn ich die App zu lange nicht nutze, ist der Inhalt verschwunden.
Snapchat bedient, und das auf brutalste Weise, eine Verhaltensweise, die sich in der digitalisierten Welt eingenistet hat: Die Angst, etwas zu verpassen. Diese macht sich Snapchat zu eigen. Je temporärer ein Inhalt, desto häufiger muss das Social Network angesteuert, die App genutzt werden, um am Ball zu bleiben.
Auch die Filter, bei denen über Gesichtserkennung das Gesicht verfremdet werden kann oder mit einer weiteren Person die Gesichter getauscht werden können, erfüllen eine wichtige Aufgabe. Sie begründen das Selfie. Während diese vorher eher beliebig waren, geben die Filter ihnen Sinn.
Diese Gedanken sind bei Weitem nicht »fertig«. Doch sollte besonders in der Kommunikationsbranche nicht der Fehler begangen werden, Snapchat zu ignorieren. Es ist nicht länger in Ordnung, Snapchat nicht zu verstehen.