Essay

Das beste Europa, das wir kennen.

Vorige Woche sah ich eine Rede von Dr. Navid Kermani, die er anlässlich des 65. Geburtstages des Grundgesetzes vor den Abgeordneten des Bundestages hielt. Er lobte stark und überschwänglich den Weitblick der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Er kritisierte die deutsche Asylpolitik, ja, aber er lobte die Grundrechte, die unsere Verfassung festschreibt. Er wies darauf hin, dass noch nicht alle im Grundgesetz verankerten Prinzipien in gebührendem Rahmen umgesetzt sind, doch kam, nachdem er die unmittelbare Vergangenheit Europas dargelegt hatte, Nationalismus und Schützengräben, Kalter Krieg und Berliner Mauer, zum Schluss: Wir leben im besten Europa, das wir kennen.

Ich dachte darüber nach, aber vergaß die Rede schnell wieder.

Dann schreckte mich eine zweite Gegebenheit auf: Nicht nur die vielen Stimmen für die populistische Alternative für Deutschland, sondern auch das Erstarken der Rechten über den gesamten europäischen Kontinent. Da war sie, präsent in der ganzen Union: Europaskepsis. Forderungen nach einem Austritt.

Ich las Kommentare von Anhängern der AfD. Ich wollte mich zumindest etwas damit auseinandersetzen. Zwischen Behauptungen über Weltverschwörungen der Wirtschaftsbosse, kruden, nationalistischen Theorien und »Die Politiker da oben haben nie etwas für uns getan« stieg ich aus.

Ja, Europa geht es in vielen Punkten nicht gut. Wir haben große Probleme mit Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen in vielen Ländern, ganze Wirtschaften sind am Boden. Doch würde es ohne Europa besser gehen? Mit Zöllen? Mit weniger wirtschaftlicher Zusammenarbeit? Mit eigenen Währungen? Gar mit Nationalismus?

Ich lese von klugen Menschen, die auf weniger kluge Websites verlinken. Nicht nur über Europa, generell. Ich lese von Zusammenbruch. Politik in Hinterzimmern. Brüssel, wo man das Ende der Zivilisation an irgendeinem Dienstag Mittag zwischen der Abstimmung zur der Länge von Bananen besiegelt. Lese davon, wie der Staat den Bürger klein macht. Wie die Medien gleichgeschaltet sind. Nur das berichten, was ihnen vorgegeben wird. Zensur. Lese vom totalitären Staat, in dem wir leben.

Wie ein Hohn muss sich das für die Opfer der zwei totalitären Staaten anhören, die vor nicht allzu langer Zeit über Deutschland wüteten.

Ich denke: Wir leben im friedlichsten Europa, das wir kennen. Doch statt das zu erkennen, statt zu erkennen, dass wir Grundrechte, Menschenrechte haben, für die wir als Menschheit lange gekämpft haben, lenkt uns die Ansicht, dass wir in einer schlechter werdenden Welt leben, von den tatsächlichen Problemen der Welt ab, an denen wir noch weiter arbeiten müssen. In Deutschland und in der Welt. Gleichberechtigung, Verteilung von Nahrungsmitteln, Tierrechte, Armut, Netzneutralität, Sicherheit und Freiheit. Das sind nur einige.

Gab es früher mehr Gleichberechtigung? Waren Medien frei? Gab es keine Hungersnöte? Rechte für Tiere? Weniger Armut? Einen Rechtsstaat?

Fortschritt, der bereits gesellschaftlicher Konsens geworden ist, noch einmal zu diskutieren, hält uns von weiterem Fortschritt ab. In der ersten Phase wird gefragt, ob ein Fortschritt generell sinnvoll ist, in der zweiten geht es darum, ihn tatsächlich zu gestalten. Wir können nicht ewig mit Menschen diskutieren, die noch in der ersten Phase sind. Wir müssen nicht noch einmal erörtern, weshalb alle Menschen dieselben Rechte haben, unabhängig von Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Sondern, wie wir deren Umsetzung erreichen.

Es ist nicht falsch, zu hinterfragen. Natürlich nicht. Doch die falschen Gründe dafür sind es. Und die falschen Lösungen anzubieten, ist es ebenso. Aldous Huxley sagte einmal, dass derjenige, der den Menschen vorgaukelt, sie zum Nachdenken zu bringen, bejubelt wird und derjenige, der sie wirklich zum Nachdenken anregt, gehasst wird.

Alle diese Probleme werden Nationalstaaten allein nicht lösen können. Denn sie kennen keine Staatsgrenzen. Wir sind auf Nachbarn angewiesen: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. In einer globalisierten Welt dürfen Probleme nicht im Alleingang gelöst werden. Wir dürfen uns nicht verschließen. Wir sind auf Zuwanderung angewiesen, die unsere Kultur vorantreibt, ebenso angewiesen wie auf Staatenbunde, mehrstaatliche Gemeinschaften.

Es ist so einfach zu sagen, dass die Welt immer schlechter wird. Es ist einfach zu sagen, dass alles viel gewalttätiger oder dass »die da oben« heute schlechtere Politik machen, viel weiter vom Volk entfernt. Es ist einfach, so etwas zu sagen. Denn derjenige braucht dafür keine fundierte Basis und wird trotzdem beklatscht. Denn irgendwie weiß man ja, dass alles schlechter wird. Oder? So ist er, der Populismus.

Es ist hingegen viel schwieriger zu sehen, was wir geschafft haben und immer noch schaffen. Ich denke an die Civil Rights Bewegung, die LGBT-Bewegung, die Frauenbewegung, die Umweltbewegung. Ich spreche davon, wie liberal wir geworden sind. Wie die Gesellschaft und die Zeit auch ganz automatisch alle Konservativen und Ewiggestrigen mitnimmt und nach und nach, Stücken für Stückchen, auch diese liberaler macht. Man muss nur die Konservativen von heute und die von vor 50 Jahren vergleichen um zu sehen: Verglichen mit früher sind heutige Konservative liberal. Denn auch wenn sich diese gerade noch in einer anderen Phase befinden, werden sie den gesellschaftlichen Fortschritt nicht wenig aufhalten können. Davon bin ich überzeugt.

Noch einmal: Wir leben in einer guten Welt. In der besten, die wir kennen.

Nachtrag, 30. Dezember 2014: Für Slate haben Steven Pinker und Andrew Mack viele Statistiken verglichen und zeigen: Die Welt war lange nicht besser dran.

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